DER SCHRITT ZUR INDUSTRIELLEN FERTIGUNG
Die Hinterlader des John H. Hall
Über Jahrhunderte war der Bau von Hinterlader-Schusswaffen einigen wenigen Visionären vorbehalten. Jägern waren mit ihren Vorderlader-Büchsen und -Flinten vollauf zufrieden. Und für den militärischen Gebrauch waren frühe Hinterlader zu kompliziert, und zu teuer, um bei den Entscheidungsträgern Beachtung zu finden. Dabei lagen die Vorteile eines von hinten zu ladenden Gewehrs auf der Hand: Bis ins 19. Jahrhundert hinein ware militärische Gewehre glattläufig, und entsprechend wenig zielgenau. Glattläufige Musketen können im Gegensatz zu gezogenen Gewehren schnell geladen werden. Denn gezogene Gewehre verlangen streng sitzende Geschosse, und diese müssen beim Vorderlader von der Mündung durch den ganzen Lauf getrieben werden, bis sie auf der Pulverladung aufsitzen. Entsprechend lag die Schussfrequenz eines gezogenen Gewehrs bei bestenfalls der Hälfte jener eines Gewehrs mit glattem Lauf. Hinterlader schaffen hier Abhilfe. Kugel und Treibladung werden direkt am hinteren Ende des Laufs geladen, weshalb die Beschaffenheit des Laufs irrelevant ist. Somit können präzise Büchsen - also Gewehre mit gezogenem Lauf - ebenso schnell geladen werden wie Flinten.
Auch der zweite Vorteil des Hinterladers kommt hauptslächlich bei der militärischen Nutzung von Schusswaffen zum Tragen. Beim Laden einer Vorderlader-Muskete muss der Schütze aufrecht stehen, bietet also ein unübersehbares Ziel. Ein Hinterlader lässt sich notfalls selbst im Liegen problemlos laden, was das Risiko für den Soldaten erheblich reduziert.
Bis ins 19. Jahrhundert ließ sich das Militär aber nicht vom Konzept des Hinterladers überzeugen. Lediglich die Briten erlaubten dem Soldaten und Konstrukteur Patrick Ferguson, 200 Mann mit einem gezogenen Hinterlader-Gewehr auszustatten, die dann im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg eingesetzt wurden. Der Versuch scheiterte durch unglückliche Umstände - Ferguson nahm selbst an der ersten Schlacht , jener bei Brandywine am 11.September 1777, teil und wurde schwer verwundet. 3 Jahre später fiel er in der Schlacht von Kings Mountain, sein Gewehr geriet in Vergessenheit. In Folge sollte es einem Amerikaner überlassen bleiben, das erste in großen Stückzahlen eingeführte Hinterlader Gewehr für das Militär zu entwickeln.
John Harris Hall kam im Bezirk 1781 Falmouth des Bundesstaates Maine zur Welt. Über die ersten Jahre seines Lebens ist wenig bekannt, - nach dem Tod seines Vaters im Jahr 1894 übernahm er als 13jähriger die Verantwortung im Haushalt. Er verdiente sein Geld als Tischler, als Fassbinder, und auch als Schiffsbauer. Im Jahr 1803 diente er in einer Miliz-Einheit, der Portland Light Infantry. Vermutlich hat er während dieser Dienstzeit sein Interesse am Design von Handfeuerwaffen entdeckt.
Am 21 Mai 1811 erwarb John H. Hall das Patent für ein einschüssiges Hinterlader-Gewehr mit Klappverschluss. Das Prinzip erinnert an jenes von Perkussions-Revolvern: Ein kurzer, ausschwenkbarer Laufteil wird wie ein Vorderlader geladen, um dann vor den eigentlichen Gewehrlauf geklappt zu werden. In jener Zeit war die Mehrzahl der amerikanischen Armee-Einheiten mit glattläufigen Vorderladern im Kaliber .69 ausgestattet. Schnell zu laden, aber bei Distanzen über 70 Meter war keine Treffsicherheit gegeben. Spezialeinheiten, oft als "Leichte Infanterie" bezeichnet, schossen Büchsen im Kaliber .52", schwer und langsam zu laden, dafür aber in den Händen erfahrener Schützen selbst auf Distanzen jenseits der 500 Meter noch ausreichend treffsicher. Hall's Büchse sollte schneller als glattläufige Musketen zu laden sein, aber ebenso präzise wie Büchsen. Eine kleine industrielle Revolution verursachte John H. Hall durch die maschinelle Fertigung seines Gewehrs, welche es erlaubte, präzise gefertigte Bauteile an Werkzeugmaschinen ohne Mitarbeit speziell geschulter Büchsenmacher herzustellen. Der Zusammenbau, aber auch die Reparatur beschädigter Gewehre, beschränkte sich dadurch auf das Verschrauben vorgefertigter Teile.
Die Tests seitens der Armee verzögerten sich durch den Krieg von 1812, John H. Hall verdiente seinen Lebensunterhalt zwischenzeitlich durch den Bau von Jagdbüchsen. Erst im Jahr 1817 erhielt er von der Armee den Auftrag, 100 Stück seiner patentierten Büchsen an die Armee zu liefern. Hall konnte noch im selben Jahr liefern. 1819 folgte der formelle Auftrag zur Lieferung von 1.000 weiteren Büchsen an die US. Army, die in Harpers Ferry/Virginia gefertigt wurden. Hall benötigte beinahe 5 Jahre, um den Maschinenparkt für die geplante maschinelle Produktion fertigzustellen, die ersten wirklich industriell gefertigten Büchsen verließen die Fabrik im Jahr 1824, 13 Jahre nach Erhalt des Patents. Kurz darauf bestellte die Regierung 1.000 weitere Büchsen, die nun in knapp mehr als einem Jahr ausgeliefert werden konnten. Diese erfolgreiche Prüfung veranlasste die Regierung, im Jahr 1828 weitere 3.000 Hall-Rifles zu bestellen.
Beinahe 20.000 dieser Gewehre verließen bis 1840 die Fabrikshallen. Die Nachfrage stieg, speziell nachdem Truppen der Miliz ebenfalls auf diese Waffe umrüsteten. Das Beschaffungsbüro suchte nun einen Auftragnehmer der zusätzliche Hall Rifles herstellen konnte, dabei aber die uneingeschränkte Austauschbarkeit aller Teile garantierte. Die Wahl fiel auf Simeon North aus Middleton, der in Folge zwischen 1830 und 1836 seinerseits 5700 "Hall-North" Büchsen zwischen 1830 und 1836 herstellte.
Im Jahr 1833 genehmigte der Kongress der Armee den Wunsch, ein 1.000 Mann starkes Dragoner-Regiment mit Hinterlader-Karabinern auszustatten. Dragoner waren berittene Infanterie, die zu Pferd als Kavallerie, abgesessen jedoch als Infanterie kämpften. Simeon North erhielt den Auftrag zur Herstellung von 1.000 glattläufigen Perkussions-Karabinern auf Basis der Hall-Rifle, im Kaliber .58, mit ausfarbahrem Bajonett anstelle des Reinigungs-Stocks. Diese ab 1834 eingeführten Waffen waren weltweit die ersten militärischen Perkussions-Gewehre.
Zwei Jahre später, 1836, folgte eine Version im Kaliber .52“. Insgesamt verließen zwischen 1834 und 1839 mehr als 7.000 Hall-North Karabiner die Fabrik. Unabhängig davon entstanden in der Waffenschmiede von Harpers Ferry zwischen 1836 und 1839 2.000 Hall Perkussions-Karabiner im Kaliber .64“. Berücksichtigt man die Produkt-Chargen der Jahre 1840 bis 1843, wurden insgesamt beinahe 17.000 Exemplare der glattläufigen Hall bzw. Hall-North Perkussions-Karabiner gefertigt. Zusätzlich entstanden in Harpers Ferry etwa 4.000 Perkussions-Büchsen im Kaliber .52“.
Die beschriebene Verwendung unterschiedlicher Kaliber führte jedoch schnell zu Problemen im Umgang mit den Hall Karabinern. Beispielsweise wurde die Pulverladung für das kleinere .52“ Kaliber nicht proportional reduziert, was in Folge zu Schaft-Brüchen bei den .52“ Karabinern führte. Außerdem wurden bei allen Hall- und Hall-North Gewehren der Austritt heißer Verbrennungsgase zwischen dem Verschluss-Block und dem Lauf beanstandet. Zwar bewährten sich diese Hinterlader im Mexikanischen Krieg hervorragend, die Regierung hatte aber bereits deren Ersatz durch Vorderlader-Perkussions-Musketen beschlossen. Im Jahr 1853 wurde die Produktion eingestellt, die vorhandenen Waffen bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs im Jahr 1861 eingemotte.
John Harris Hall verstarb im Jahr 1841. Heute ist er nur mehr einigen wenigen Insidern bekannt. Nicht einmal ein Foto oder eine Abbildung von ihm blieb der Nachwelt erhalten. Und doch waren es seine zukunftsweisenden Ideen und deren praktische Umsetzung im Maschinenpark von Harpers Ferry, die nicht nur die Produktion von Waffen sondern ganz allgemein die Serien- und damit Massenproduktion von Waren aller Art überhaupt erst ermöglichten.